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Dietmar Wischmeyer

Der Vorläufer

Die Volkssage verteufelt den Nachfolger zum Usurpator, zum Thronräuber. Den Vorläufer hingegen verklärt sie zum Propheten.

Wer jemals als Nachfolger eine Rolltreppe im Kaufhaus hinunter gefahren ist, kann das nicht verstehen. Gibt es doch regelmäßig Pappköppe, die vor einem stehen und zwei Angström hinter dem Ende der Treppe samt breitarschiger Begleitung wie angewachsen verharren. Während die in Konsumstarre verfallenen das Stockwerk mit den Augen nach der Doppelrippabteilung absuchen, tagträumen die Nachfolger auf der Fahrtreppe von Flammenwerfern, Panzerfäusten und Schneefräsen mit denen man die Bekloppten und Bescheuerten beiseite räumen kann.

Der Vorläufer ist der Innbegriff des Charakterschweins. Verantwortlich für 9/10 allen Unheils auf dieser Welt. Warum dürfen Autos nicht mit einem Meter Abstand und 180 km/h auf der Autobahn fahren? Weil beim vorausfahrenden Psychopaten ständig mit irrationalen Bremsmanövern gerechnet werden muss. Mal kreuzt eine Kaulquappe den Schnellweg, mal fällt ihm beim Pommesfressen am Volon der Curryglibber auf die Trevirahose.

Vorläufer sind überall. Sie parken aus dem Stand ihren massigen Körper im Hauptstrom der Fussgängerzone, wackeln im Schneckentempo, immer fünf nebeneinander, über Radwege, stehen in der Drehtür der Unfallnotaufnahme und unterhalten sich mit einem anderen geparkten Zellhaufen über Sonderangebote im Pimpelmarkt.

Beliebte Weidegründe des Vorläufers sind die Ufer der Autobahnen. Weil ihm die Einfädelung in eine bestehende Bewegung charakterlich nicht möglich ist, rast er den geteerten Halbkreis runter und legt auf der Beschleunigungsspur eine Vollbremsung hin. Dann glotzt er 10 Minuten dämlich auf den vorbeibrausenden Verkehr um schliesslich seine Gurke kurz vor einen mit 120 Km/h nahenden holländischen Sattelschlepper im ersten Gang auf den Hauptfahrstreifen zu kullern. Auf die anschliessende Notbremsung von 30 Tonnen Volvomasse folgt der obligate Auffahrunfall eines guten Dutzends unschuldiger Nachfolger. Um Leben zu retten sei unseren Kapitänen der Landstrasse dringend angeraten, die Zauderheinis an den Auffahrten grundsätzlich plattzuwalzen.

Der deutsche Mensch an sich ist, von seinem Volkscharakter her, ein Vorläufer. Er steht gern im Weg rum und verteidigt Standpunkte, der Kessel- und der Grabenkrieg, die Sandburg und der Parkplatz sind sein Zuhause. Bewegungen, die nicht andauernd von abrupten Bremsmanövern unterbrochen werden, sind ihm fremd. In der Ampel findet er den alltäglichen Trost für die unaufhaltsam davoneilende Zeit. Wer je einen Franzosen und Engländer in einen Kreisverkehr rasen sah und dagegen den Deutschen, wie er grundsätzlich auch vor einem leeren Kreisel bremst, um sich erst einmal wieder neu zu orientieren, ahnt, dass mit diesen Trantüten nicht viel Staat zu machen ist.

Der Vorläufer lebt schmarozend von der Nachsicht des Nachfolgers. Er weiß, dass auf seine spastische Bremsbereitschaft nicht der verdiente Tritt in den Arsch folgen wird, sondern schlimmstenfalls ein unterdrückter Fluch. So bremst sich der Parasit durch unseren Alltag und zerstört die Anmut der Bewegung und letztendlich das Prinzip des Lebens: Alles fließt. Schon lange nicht mehr. Allen vorauslaufenden Zögerlingen wünsche ich ein halbstündiges Praktikum in einer Bisonherde auf der Flucht!

(*ns*)